„Ich bin fast verzweifelt!“
+++ Nachfrage durch Corona um 52 Prozent gestiegen +++ "Depressionen und Angstzustände werden mehr +++ Wartezeiten bis zu einem Jahr +++
BAYER. UNTERMAIN (fs). Wenn man derzeit aus dem Fenster schaut, wird das Gemüt alleine schon durch das graue, ungemütliche Wetter schwer. Zwei Jahre Leben in der Pandemie tun ihr Übriges dazu. Das geht uns allen an die Psyche. Aber wie ist das, wenn Menschen dazu noch mit Depressionen, Burnout und Angstzuständen zu kämpfen haben? Die Nachfrage nach einem Therapieplatz ist im Januar 2021 in Bayern um 52 Prozent gestiegen. Die Wartelisten werden länger und länger. Bis zu einem Jahr muss man sich teilweise gedulden, bis ein fester Therapieplatz frei wird. Viele Menschen suchen daher verzweifelt nach jemandem, der ihnen sofort helfen kann. So ging es auch Jana S.* aus Aschaffenburg.
Im Mai 2020 merkte sie, irgendwas stimmt mit ihrer Psyche nicht. „Man muss erstmal zu der Erkenntnis kommen: Ich habe da ein Problem, bei dem mir ein Psychologe helfen kann.“ Berührungen mit dem Thema hatte sie zuvor nicht. Ihr erstes Gespräch bekam sie bei einer privaten Psychologin. „Da habe ich das erste Mal eine Diagnose an den Kopf geschleudert bekommen: Burnout und Depressionen.“ Bei der Therapeutin konnte sie dann aber nicht bleiben, weil sie gesetzlich versichert ist. So begann die verzweifelte Suche nach einem Therapeuten. Meistens läuft das so ab, dass man in einer Praxis anruft. Es gibt auch die Möglichkeit, über die Kassenärztliche Vereinigung oder die Rufnummer 116 117 einen Termin auszumachen. Dort kann es aber passieren, dass man lange Strecken zu einem Termin fahren muss. Auf E-Mails antworten die wenigsten Psychologen. Einige haben auch pro Woche nur zwei Stunden Sprechstunde. „Wenn du die verpasst, musst du wieder eine Woche warten. Und wenn du dann mal jemanden erwischst, bekommst du meistens eine Absage. Ich habe am Ende bestimmt 25 Therapeuten hinterhertelefoniert und meine Geschichte erzählt. Dazu hatte ich eine Excel-Liste, wer wann Sprechstunde hat und wo ich schon angerufen habe.“ Viele Patienten sind aber zu so einem strukturierten Vorgehen gar nicht in der Lage.
Wie kommt man an eine Therapie?
Dr. Gunnar Immo Reefschläger, Psychologe aus Aschaffenburg kennt das Problem zu gut. „Am Anfang hat man ein Erstgespräch. Das ist gesetzlich verpflichtend. Dort wird dann geschaut, ob die Therapieform passt und ob die gegenseitige Sympathie stimmt. Erst nach einigen weiteren Sitzungen kann dann eine Therapie beantragt werden.“ „Das Erstgespräch bekommt man noch vergleichsweise einfach“, erklärt Jana S. „Danach konnte mir dann aber meist kein Therapieplatz angeboten werden. Sechs bis zwölf Monate hätte ich warten müssen.“ Bei Dr. Reefschläger ist das ähnlich: „Meine Wartezeit für einen Kassenplatz beträgt ein dreiviertel Jahr.“ Je länger man jedoch wartet, umso schlimmer wird das Problem. Dazu kommt, dass Therapeut und Patient nicht immer zusammenpassen. „Diese ganzen Rückschläge sind einfach nicht förderlich, wenn man sowieso schon ein geringes Selbstwertgefühl hat. Das hat für mich die Symptome noch schlimmer gemacht“, erinnert sich Jana. „Diese Weitergabe von Therapeut zu Therapeut ist sehr gefährlich“, erklärt Dr. Reefschläger. Schnell entsteht die Annahme, dass es keinen Ausweg gibt. Über Umwege kam Jana zu ihrem Platz - bei einer Therapeutin, von der sie eigentlich schon eine Absage bekommen hatte.
Sich den Mut nicht nehmen lassen
Das Problem dabei sind nicht zu wenige Therapeuten, sondern die wenigen Kassensitze. Das bedeutet, den Psychotherapeuten fehlt eine Art Lizenz, um mit der Kasse abzurechnen. Wer das darf, entscheidet letztlich der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). So stehen wir vor dem Problem: Therapeuten wollen Patienten - Patienten suchen einen Therapeuten, aber beide Seiten finden nicht zueinander. Es gibt trotz allem auch weitere Möglichkeiten - auch zur Überbrückung. Wenn man eine gewisse Anzahl bescheinigte Absagen von Therapeuten hat, kann man bei der Krankenkasse auch eine Psychotherapie bei einem privaten Psychologen beantragen. Eine Studie der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung ergab Anfang Februar 2022 jedoch, dass immer noch 48 Prozent dieser Anträge abgelehnt werden. „Bei Notfällen sollte eine Akutklinik aufgesucht werden“, erklärt Dr. Reefschläger. Ansonsten sind er und Jana S. sich einig: „Auch wenn der Weg schwierig und mit vielen Rückschlägen verbunden ist: Es lohnt sich, eine Psychotherapie in Angriff zu nehmen.“ „Ich war etwa fünfzehn Monate in Therapie“, sagt Jana S. „Mittlerweile bin ich wieder gesund.“ Außerdem macht sie eine Ausbildung zur mentalen Ersthelferin. „Dass ich quasi erste Hilfe bei psychischen Problemen leisten kann. Ich möchte diese unterstützende Person sein, die ich nicht hatte!“