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„Müssen Vertrauen zurückgewinnen“

10.07.2022, 06:30 Uhr in News
Kirchenbaenke

BAYER. UNTERMAIN (mg). Der Kirche laufen die Schäfchen davon. In ganz Deutschland wird über die hohe Zahl der Kirchenaustritte berichtet. Im vergangenen Jahr haben rund 360.000 Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt – fast 90.000 mehr als im Rekordjahr 2019. Auch auf der evangelischen Seite sind die Austritte angestiegen - von 60.000 im Vorjahr auf rund 280.000 Fälle. Damit gehören erstmals weniger als die Hälfte der Bundesbürger einer der großen Kirchen an. Die Zahlen am Bayerischen Untermain spiegeln diese Situation wider. Und dieses Jahr droht das Ganze nochmal zu toppen…

Die Skandale der Kirche sind keine Neuheit in der Weltgeschichte. Egal ob die Rolle der Frau, die Verurteilung der Homosexualität oder die Missbrauchsskandale. Die Kirche hat sich in kein gutes Licht gerückt. Zuletzt durch die sexuellen Missbrauchsfälle im Erzbistum Köln und der Veröffentlichung des Missbrauchsbericht im Erzbistum München und Freising. Auch

am Untermain stand Anfang des Jahres ein Priester wegen sexuellem Fehlverhalten gegenüber eines Erwachsenen vor Gericht.

KW27 Kirchenaustritte Franz Jung
Foto: Markus Hauck (POW)

Kein Ende in Sicht

Beim Aschaffenburger Standesamt steigt die Nachfrage nach Terminen für Kirchenaustritte, wie uns eine Sprecherin mitteilte. In diesem Jahr hat das Standesamt schon 615 Kirchenaustritte entgegengenommen - die 787 von letztem also fast schon geknackt. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es nur 328. Rudi Rupp, Dekan der evangelischen Kirche Aschaffenburg, sieht kein Ende der steigenden Zahlen: „Die allgemeine Entwicklung ist natürlich nicht gut. Ähnlich wie in ganz Bayern wird sich die Tendenz dieses Jahr fortsetzen. In der Stadt ist das noch mehr der Fall als auf dem Land - vor allem seit dem Ende der Corona-Zeit.“ Laut Rupp geht die Altersspanne der Ausgetretenen in unserer Region von ganz jung bis ins Rentenalter. „Wir haben jetzt weniger 16 oder 18-Jährige, sondern eher Menschen mittleren Alters, die aus der Kirche austreten - aber es gibt auch 80-Jährige die sagen: ‚Wir wollen keine Kirchensteuer mehr bezahlen‘ und die Kirche verlassen.“ Dem evangelischen Dekan zu Folge gibt es auch immer weniger Konfirmanden. „In der Stadt haben wir nur so um die 50 Prozent in den Jahrgängen, die sich konfirmieren lassen. Auf dem Land sind es im Schnitt immerhin noch 80 Prozent, aber es ist auf jeden Fall ein Rückgang zu erkennen.“ Auch in Miltenberg hat das Standesamt alle Hände voll zu tun. Zu Beginn der Woche wurde dort der 100.Kirchenaustritt in diesem Jahr beurkundet. Ein Novum in der Geschichte von Miltenberg. Noch nie hat die Zahl der Kirchenaustritte die dreistellige Marke geknackt. Im Bistum Würzburg sind im Jahr 2021 gesamtheitlich 10.567 Katholiken ausgetreten - deutlich mehr als die 7.186 im Vorjahr. Neben mehr als 5.000 Taufen gab es 29 Eintritte in die Kirche. Würzburgs Bischof Dr. Franz Jung schmerzen diese Zahlen sehr, wundert es aber nicht, dass „..derzeit viele Menschen der Kirche das Vertrauen entziehen und auch unserem guten Tun die Zustimmung versagen.“

KW27 Kirchenaustritte Philipp Tropf

„Riesige Baustellen“

In einem Artikel auf Homepage der Diözese spricht der Bischof von „riesigen Baustellen“. Die Aufklärung und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Kirche ist ein immens wichtiger Punkt. Daneben ist es für ihn vor allem wichtig, dass Vertrauen der Menschen wiederherzustellen. Beim „Umgang mit den uns anvertrauten Finanzen und der von den Gläubigen zu Recht erwarteten Transparenz des kirchlichen Handelns“, müsse man besser werden, wird Jung zitiert. Auch für Rupp ist die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen immens wichtig: „Auf der einen Seite wird die Aufarbeitung schon akribisch vorangetrieben, aber auf der anderen Seite gehört es dazu, dass man sich diese alten Fälle vor Augen führt und sich damit beschäftigt.“ Heute gehe man ganz anders mit solchen Fällen um, doch desto wichtiger ist es, dass man die Altfälle nicht bagatellisiert, so Rupp. „Bei den Fällen in Köln hat der regierende Kardinal Woelki sehr unglücklich reagiert.“ Priester Philipp Tropf aus Goldbach wurde wegen der Liebe zu einer Frau aus dem Dienst entlassen und sprach schon im April in PrimaSonntag vom bevorstehenden „großen Crash der Kirche“. Er ist jetzt als Priester ohne Kirche aktiv und die Entwicklung der Kirche erfüllt ihn mit großer Sorge: „Mit den hausgemachten Auflösungserscheinungen der Kirchen ist auch ein Kulturverlust verbunden. Noch viel wichtiger aber ist die immer drängendere Frage: Wer steht heimatlos gewordenen Christen bei? Wer lebt mit ihnen den Glauben? Wer übernimmt ihre Seelsorge?“ Um den Rest der Herde beisammenzuhalten, muss wohl noch viel Aufarbeitung und Modernisierung einer hoch umstrittenen Institution geleistet werden. Denn die meisten Schäfchen wollen nur eines: einen Hirten, auf den sie sich verlassen können.

Das sagen die PS-Leser:

KW27 Kirchenaustritte 1

Monika Johnson-Okonoboh: „Ich kann das total nachvollziehen. Die Kirche ist nicht mehr das, was sie früher einmal war. Ich bin zwar noch in der Kirche, habe mir aber schon häufiger überlegt auszutreten.“

KW27 Kirchenaustritte 2

Dorotha Eitel aus Aschaffenburg: „Ich kann verstehen, dass immer mehr Leute aus der Kirche austreten. Kirche ist total altmodisch und könnte viel interessanter sein.“

KW27 Kirchenaustritte 3

Kerstin Münnich aus Aschaffenburg: „Ich wurde überhaupt nicht kirchlich erzogen und war daher noch nie in der Kirche. Was mich stört ist, dass die Missbrauchsfälle nicht transparent aufgeklärt werden.“

KW27 Kirchenaustritte 4

Walter Konopik aus Aschaffenburg: „Wenn man so alles hört, was in der Kirche passiert, kann ich schon verstehen, dass sich viele darüber ärgern. Man hat ja selbst einen gewissen Glauben, dem man nachgeht und da bleibt man eben in der Kirche.“

KW27 Kirchenaustritte 5

Dr. Friedrich Droste aus Leider: „Ich halte wenig von den Austritten. Man muss in der Kirche bleiben, um selbst Veränderungen herbeizuführen. Ich bin selbst in der Kirche und kann das nicht gutheißen.“

KW27 Kirchenaustritte 6

Peter Weitz aus Mainaschaff: „Ich kann es nachvollziehen. Die Kirche muss sich mit der Konfrontation auseinandersetzen und halt mal alles auf den Tisch legen. Ich habe mehrmals mit dem Gedanken gespielt, aus der Kirche auszutreten, bin aber geblieben, denn es sind ja nicht alle so.“

KW27 Kirchenaustritte 7

Bernd Radecker aus Aschaffenburg: „Was man da letztens so gehört hat mit dem Papst und dem Missbrauch, da wundern sich die Leute schon, warum das passiert. Da haben die Leute schon recht, wenn sie aus der Kirche austreten.“