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„Schneid‘ dir die Pulsadern auf!“

17.10.2021, 12:00 Uhr in News
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ALZENAU/INTERNET. „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“ – So betitelten in der Vergangenheit zahlreiche Politiker die Rechtslage im Netz. Aber stimmt das auch? Lea W. hat die harte und hässliche Seite des Internets zu spüren bekommen: Cybermobbing ! Warum ihre ganze Familie darunter leidet und warum ihr keiner hilft, verriet sie PrimaSonntag …

„Eines Mittags rief mich der Schulpsychologe an und sagte mir, meine Tochter wolle lieber sterben, als das alles nochmal ertragen zu müssen“, erzählt Mutter Petra. „Etwas Schlimmeres kann man als Eltern gar nicht zu hören bekommen!“ Die Schreckenstortur begann im September 2020. „Da fingen die ersten Sticheleien auf dem Twitter-Account einer ehemaligen Freundin an“, erinnert sich Lea W. „Ich bin mit ihrem Ex-Freund zusammen gekommen, darüber ist sie wohl nicht hinweg gekommen.“ Anfangs hatte sich die Schülerin darüber noch keine großen Gedanken gemacht. Damals ahnte keiner, was noch alles bevor stand! Aus Sticheleien wurden schnell Beleidigungen und Lea wurde von zahlreichen Accounts auf Instagram angeschrieben. „Du ekelhafte Crackh*re, durchgef*ckte Schl*mpe und dreckiges Stück Scheiße“ – alles Nachrichten, die der 16-jährigen an den Kopf geworfen werden. Egal ob Friseurbesuche oder Krankenhausaufenthalt – nichts in ihrem Leben geht ohne abfällige Postings auf Social-Media vonstatten. Auch die Eltern bleiben nicht verschont, bekommen Mails von fremden Adressen mit Beleidigungen und Anschuldigungen. „Ich solle doch mal mehr auf meine Tochter aufpassen, da sie drogen- und alkoholabhängig sei“, gibt Vater Peter den Inhalt der Mails wider. Der Terror scheint kein Ende zu nehmen! „Es ist unvorstellbar, was das mit einem macht“, beklagen die Eltern der Familie.

Steigendes Problem
Im Rahmen der JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest wird seit 1998 der Umgang von 12- bis 19-Jährigen mit Medien und Information repräsentativ erhoben. Hierbei wird seit mehreren Jahren auch nach dem Thema Cybermobbing gefragt. In der Altersgruppe der 12- bis 19-Jährigen gibt fast jeder Zweite an, dass in ihrem Bekanntenkreis schon einmal jemand im Internet oder per Handy fertig gemacht wurde. Mädchen waren davon mit 42 Prozent noch häufiger betroffen als Jungen. Hier liegt die Zahl bei 31 Prozent. Was also tun, wenn man mal ins digitale Kreuzfeuer gerät? „Man sollte die Vorfälle immer dokumentieren um die Beweise sicher zu stellen“ rät Sigrid Ehrmann von der Medienfachstelle des Stadtjugendrings in Aschaffenburg. Darüber hinaus sei es sehr wichtig, die Postings und Personen bei den Netzwerkanbietern zu melden. „Man muss sich Personen anvertrauen, zum Beispiel den Eltern oder Lehrern, um über das Erlebte zu reden“, weiß Expertin Ehrmann.

„Geh dich bitte umbringen“
Diesem Rat kam auch Lea nach. Auch ihre Freunde standen weiterhin zur ihr – hilflos fühlt sie sich trotzdem. „Dich will hier doch eh keiner“, steht beispielsweise in den Nachrichten auf Instagram. „Man fühlt sich so alleine, wenn man immer wieder diese Beleidigungen und Lügen liest“, gesteht das Mädchen. „Mein Selbstwertgefühl ist extrem gesunken, weil man irgendwann anfängt, die Dinge zu glauben.“ Von Einsicht allerdings keine Spur: zahlreiche Versöhnungsversuche scheitern kläglich. „Die Person und ihre Mutter waren sogar hier bei uns zuhause, um das zu klären“, erinnert sich Petra W. Auch das bleibt erfolglos. „Nachdem sie meine Tochter und mich als H*re beleidigten, habe ich sie aus unserer Wohnung geschmissen“, berichtet die verärgerte Mutter. In der Folge erreichen die Nachrichten ihren Höhepunkt. „Mir wurde geraten, aus dem Fenster oder von einer Brücke zu springen“, gesteht die 16-Jährige. „Ich hoffe du schneidest dir deine Pulsadern auf, du würdest der Welt einen Gefallen tun!“ Jetzt ist für jeden klar: Es reicht!

Niederlage oder Niederlage

Die Familie nimmt sich einen Anwalt und zieht vor Gericht. Jedoch kommt es trotz zahlreicher Beweise und Screenshots der Chats und Postings nie zu einem Prozess. „Es wurden drei Schlichtungsverfahren angesetzt“, berichtet Peter W. „Die ersten beiden Verfahren lehnten wir ab. Für uns war das keine Option, die Zeit der Entschuldigungen war vorbei!“ Doch plötzlich bleiben Eltern und Tochter keine andere Wahl. „Uns wurde gesagt, entweder wir gehen auf das Schlichtungsverfahren ein oder unsere Klage wird abgewiesen.“ Letztendlich wurden der Familie 200 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Die eigenen Anwaltskosten, die das mehr als fünffache der Summe betragen, muss die Familie allerdings zahlen. Ist der Spuk denn nun vorbei? Nur eine Stunde nach Verhandlungsende – der nächste Post über Lea auf Twitter. „Jetzt heißt es auch noch, dass wir vielleicht die Anwaltskosten der Gegenpartei tragen müssen“, erzählt der entrüstete Vater. „Wir wurden zur Wahl zwischen Niederlage oder Niederlage gezwungen!“

Das Internet vergisst nichts
Über bleibt eine verzweifelte Familie, die nach wie vor keine Ruhe findet. Lea befindet sich mittlerweile in therapeutischer Behandlung und ist aufgrund der Ereignisse im letzten Jahr eine Klasse zurück getreten. Nach wie vor leidet die Familie unter Anfeindungen im Internet. „Unsere Tochter war immer ein fröhliches und lachendes Mädchen“, berichten Eltern, „seit dem Vorfall hat sie sich verändert. Sie ist viel ruhiger und zurück gezogener.“ Auch um die Zukunft macht sich der Peter W. große Sorgen. „Was wenn zukünftige Arbeitgeber diese Lügen lesen?“ befürchtet der Vater. Mittlerweile kann die Familie über all die Kampagnen und Aktionen in Bezug auf Cybermobbing nur lachen. „Unser Fall zeigt, dass die Politik hier nur große Reden schwingt, sich allerdings nichts für tatsächliche Opfer interessiert.“ In der Zukunft müsse es einen Wandel geben. Jedoch ist das für Lea und ihre Familie zu spät.